23.01.2024

Vor 100 Jahren: Die bürgerlichen Parteien paktieren mit der antisemitischen Vereinigten Völkischen Liste.

Am 10. Februar 1924 fanden Landtagswahlen in Thüringen statt. Dieser Urnengang bedeutete eine Zäsur. Denn im 1920 aus dem Zusammenschluss verschiedener Kleinstaaten entstandenen Land Thüringen begann die Zeit der konservativen Restauration in Politik und Kultur.

Seit der Landesgründung regierte die SPD in verschiedenen Konstellationen. Zunächst im Bündnis mit der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), fallweise gestützt von der Kommunistischen Partei (KPD) und den Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD). Anschließend koalierten SPD und USDP, erneut fallweise gestützt von der KPD. Eine im Oktober 1923 gebildete Koalition aus SPD und KPD wurde ebenso wie in Sachsen von der Reichsregierung brachial beendet - die Reichsregierung marschierte in Mitteldeutschland ein.

Mit den Wahlen zum III. Thüringer Landtag wurden die bisherigen Mehrheitsverhältnisse fundamental geändert. Der "Thüringer Ordnungsbund", in dem sich die DDP gemeinsam mit der rechtsliberalen Deutsche Volkspartei (DVP), der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) sowie dem rechtskonservative Thüringische Landbund versammelte, erreichte mit 35 Mandaten gegenüber SPD (17) und KPD (13) die relative Mehrheit.

Die Jahre ab 1921 waren geprägt von harten politischen Auseinandersetzungen zwischen den linken Arbeiterparteien einerseits und den bürgerlich-liberalen sowie konservativen und deutschnationalen Parteien andererseits. Letztere gründeten den Ordnungsbund mit dem Ziel, die Kräfte gegen links zu bündeln. Während andernorts die liberale DDP mit der SPD koalierte, traten Liberale und Deutschnationale bei der Landtagswahl 1924 mit der Losung an: "Das ganze Land kam auf den Hund, es hilft nur noch der Ordnungsbund".

Am Ende erreichten sie zwar 48% aber eben keine Regierungsmehrheit. Auf SPD und KPD entfallen zusammen 41,5 Prozent. Weitere sieben Sitze erhält die erstmals zur Wahl angetretene "Vereinigten Völkischen Liste", der u.a. drei Mitglieder der aufgrund des Münchner Hitlerputsches vom 9. November 1923 verbotenen NSDAP angehörten.

Die schroffe politische Lagerbildung zwischen links und rechts, eine linksorientierte SPD und die Ereignisse der Reichsexekution gegen die rot-rote Regierung in Sachsen und Thüringen bildeten in der Summe die Ursache dafür, dass in Thüringen keine republikanische Regierung aus SPD und den beiden liberal-demokratischen Parteien DDP und DVP gebildet wurde. 

Vielmehr waren die bürgerlichen und rechten Parteien erpicht darauf, alles zu tun, um die von ihnen radikal abgelehnten Linksregierungen abzulösen. Deshalb begingen sie den Tabubruch, ein Bündnis mit der antisemitischen "Vereinigten Völkischen Liste" (VVL) zu schmieden.

Bereits am 21. Februar 1924 wurde in der konstituierenden Sitzung des Landtags die neue Regierung vereidigt. Zuvor wurde mit den Stimmen des Ordnungsbundes und der Völkischen Liste - entgegen parlamentarischer Gepflogenheiten - statt des SPD-Kandidaten der stärksten Fraktion, Hermann Leber - der Ordnungsbund-Kandidat Dr. Erich Wernick gewählt.

Die VVL machte eine Unterstützung der liberal-konservativen Regierung unter dem DVP-Politiker Richard Leutheußer davon abhängig, dass in der Regierung nur "deutschblütige, nicht-marxistische Männer" sitzen dürften.

Am 12. April 1924 erklärte der Führer der VVL, der einschlägig bekannte Rechtsextremist Artur Dinter, im Landtag unumwunden: "Bei der Regierungsbildung haben wir nicht den leisesten Zweifel gelassen, unter welchen Bedingungen wir der Regierung unser Vertrauen geben und uns zu positiver Mitarbeit verpflichten. Es waren diese Forderungen in 4 Punkten enthalten. Der erste dieser Punkte war, soweit ich es im Kopfe habe, daß es uns darauf ankommt, daß diese Regierung die Juden aus allen Regierungs- und Beamtenstellen bedingungslos entfernt [...] Und gerade auf dem Gebiet des Bank- und Börsenwesens, das wir Völkischen mit aller Rücksichtslosigkeit bekämpfen wollen, durch Verstaatlichung des Bank- und Börsenwesens, Verbot des Terminhandels zsw. können wir unter gar keinen Umständen einen Juden brauchen. Und ich wiederhole, das ist eine grundsätzliche Frage, die wir Völkischen angeschnitten haben."

Dem Antisemitismus der Völkischen "opferte" die DDP ihren Spitzenkandidaten und Vater der ersten republikanischen Thüringer Verfassung, den jüdischen Professor der Universität Jena, Eduard Rosenthal. Er verlor jeglichen Einfluss auf politisches Geschehen. An den Alterspräsidenten des III. Thüringer Landtags erinnert heute das dezentrale Denkmal "Erinnerungsbohrungen" von Horst Hoheisel und Andreas Knitz.

Der Präsident der Thüringischen Staatsbank Walter Loeb wurde zum Rücktritt gedrängt und zudem aufgrund von ungerechtfertigten Meineid-Vorwürfen strafrechtlich verfolgt. Dies alles war Ziel und Ergebnis einer Kampagne der Rechtsextremisten aber auch zahlreicher Konservative, die in Übereinstimmung mit den Nationalsozialisten der Meinung waren, man könne keinen Juden an der Spitze eines Finanzinstituts dulden. In diesem Skandal zeigten sich alle bekannten antisemitischen Argumentationsmuster. Dinter sprach dies in der erwähnten 17. Landtagssitzung vom 12. April 1924 unumwunden aus: "Der Jude Loeb soll in der Versenkung verschwinden."

Der Rechtsstreit um die konstruierten Meineid-Vorwürfe gegen Staatsbankpräsident Loeb führte zu einem weiteren Skandal. Die Anklage gegen Loeb führte Staatsanwalt Otto Flöl, der zunächst der Deutschnationalen Volkspartei angehörte und seit 1928 der NSDAP angehörte. In einer Auseinandersetzung um den Loeb-Prozess erklärte Staatsanwald Kurt Frieders seinen öffentlichen Rücktritt an, falls Flöl die Anklage gegen Loeb weiterführte. Das mutige Verhalten Frieders erklärt sich daraus, dass der aus einer jüdischen Familie stammende Jurist eigentlich Ernst Friedländer heißt und seit seinem Dienstantritt in Thüringen antisemitisch denunziert wird. Aufgrund seiner SPD-Mitgliedschaft ist er auch dem Vorwurf der Ämterpatronage ausgesetzt.

Aufgrund seines Protestverhaltens im Fall Loeb, Frieders tritt tatsächlich zurück, wird er jahrelang mit Disziplinarverfahren und Ermittlungen verfolgt und kann sich einer letztlich verhängten Haftstrafe, gegen die alle Rechtsmittel bis zum Reichsgericht ebenso scheitern wie der Antrag auf Begnadigung durch die Landesregierung, nur durch Flucht nach Österreich entziehen. Der willfährige Staatsanwald Otto Flöl hingegen macht in der NSDAP Karriere und wird nach dem Zweiten Weltkrieg Landtagsabgeordneter, zunächst der Deutschen Partei und dann der CDU, in Schleswig-Holstein. Er leitet zuletzt als Vorsitzender den Justizausschuss im Landtag.

Zurück nach Thüringen: Noch im März 1924 erwirkte Artur Dinter eine Aufhebung des Verbots der NSDAP und anderer völkischer Nationalistengruppen in Thüringen, das dadurch zum Aufmarschgebiet der Nazis wurde. Auch das Redeverbot für Hitler wurde aufgehoben.

Im August 1924 hielt die von General Ludendorff angeführte "Nationalsozialistische Freiheitspartei" ihren Reichsparteitag in Weimar ab. Ausgerechnet das Deutsche Nationaltheater, in dem fünf Jahre zuvor durch die Nationalversammlung die Weimarer Reichsverfassung erarbeitet wurde, stellte die konservative Landesregierung diesem Gipfeltreffen völkisch-nationalistischer Organisationen zur Verfügung, in dem sie das Theater vom 15. bis 17. August 1924 als Versammlungsstätte öffnete. Der Schriftsteller und Diplomat Harry Graf Kessler beschrieb "die wüste Hetze gegen die 'Judenrepublik'", die unter dem Deckmantel eines "deutschen Kulturbekenntnisses" im Rahmen dieser Veranstaltung vor dem Nationaltheater, am Fuße des Goethe- und Schillerdenkmals betrieben wurde.

Die reorganisierte NSDAP führte zwei Jahre später, im Juli 1926 ihren ersten Reichsparteitag ebenfalls in Weimar durch. Hitler ernannte Dinter zum Dank zum NSDAP-Gauleiter in Thüringen. Er wurde zugleich Herausgeber der in Weimar erscheinenden Zeitschrift "Der Nationalsozialist".

Der Faschismusforscher Manfred Weißbecker kennzeichnet in der Tageszeitung nd die Folgen dieser Entwicklung mit den Worten: "In keinem anderen Land des Reiches wäre es möglich gewesen, nach der Wiedergründung der Partei ihren ersten Parteitag durchzuführen. In dessen Vorfeld, am 10. Juni 1926, hatte die Fraktion der NSDAP [gemeint ist hier die Völkische Liste, in der die NSDAP vertreten war] Gesetzentwürfe in den Landtag eingebracht, die den Ausschluss von Juden aus öffentlichen Ämtern, ihre Nichtzulassung als Ärzte, Notare, Vieh- und Getreidehändler, Studenten und Schüler sowie die »Ausweisung von Ostjuden aus dem Freistaat Thüringen und die Beschlagnahme ihres Vermögens« forderten. Als Jude galt jeder, der »in der großväterlichen Geschlechterfolge (Generation) noch Blutsverwandte hatte, die sich zum mosaischen Glauben bekannten, egal ob sie heute getauft sind oder nicht«. Zwar fanden die Anträge keine Zustimmung. Doch gab es keine Auseinandersetzung mit diesen ungeheuerlichen Vorstößen. Man war befasst mit dem Kampf gegen die Linke."

Die Regierung Leutheußer regierte durch eine Vielzahl von Notverordnungen, mit denen sowohl Verwaltungsstrukturen geändert und Personalpolitik betrieben wurde. "An der Thüringer Landesuniversität Jena bekamen Senat und Rektor die traditionellen [von den Arbeiterregierungen beschnittenen - BIH] akademischen Rechte wieder zuerkannt, umfangreiche Neubesetzungen von Beamten, insbesondere im Bereich Bildung und Kultur, wurden realisiert", resümiert Burkhard Stenzel.

Die 1921 gebildete Minderheitsregierung von SPD und USPD unter August Frölich (SPD) verfolgte ein ambitioniertes Reformprogramm, insbesondere in der Kultur- und Bildungspolitik. Zu den Reformen der Thüringer Linksregierungen äußerte ich mich in einem Blog-Beitrag über das Jahr 1923 und die Volksfrontregierungen in Sachsen und Thüringen.

Zunächst wurde das Kultusministerium aus dem Justizministerium herausgelöst, an dessen Spitze der unabhängige Sozialdemokrat Max Greil trat. Er initiierte als Volksbildungsminister eine Reform der Schulen und der Universität Jena, die Gleichbehandlung der Theater und Orchester, die zu den weitreichendsten Reformbemühungen einer sozialistischen Kulturpolitik in der Weimarer Republik insgesamt gehörten. Greil wurde als Person zur Zielscheibe heftigster Anfeindungen und Kontroversen, die bereits begannen, als er noch als Volkschullehrer für die Einheitsschule und die Abschaffung des Religionsunterrichts in Gera eingetreten war.

Wenn bis heute über eine „Schule für alle“, ob in Form der in Westdeutschland etablierten Gesamtschule oder der ostdeutschen Gemeinschaftsschule debattiert wird, dann ist festzuhalten, dass dieser Gedanke erstmals in den 1920er Jahren in Sachsen und Thüringen, letzteres auch das Geburtsland der Kindergärten, gegen enorme Widerstände praktisch umgesetzt wurde. Bis heute sind diese Entwicklungen mit Max Greil verbunden.

Die völkisch tolerierte Ordnungsbund-Regierung unter dem DVP-Politiker Richard Leutheußer hob das von den seit 1919 tätigen Arbeiterregierungen erlassene Züchtigungsverbot in den Schulen teilweise wieder auf und machte insbesondere die Bildungsreformen der vorhergehenden Linksregierungen rückgängig.

Dem 1919 in Weimar gegründeten avantgardistischen Bauhaus entzog Staatsminister Leutheußer, der auch für Volksbildung zuständig war, unter ausdrücklicher Billigung der Völkischen die notwendigen Mittel. Bereits im März 1924 kündigte die Regierung Leutheußer an, den Vertrag mit dem Bauhaus-Direktor Martin Gropius nicht verlängern zu wollen. Eine Solidaritätsadresse der Bauhausmeister für ihren Direktor Gropius beantwortete die Regierung im September 1924 mit der "vorsorglichen Kündigung" der Verträge für die Bauhausmeister zum 1. April 1925. Die im Grunde gesetzeswidrige Vorgehensweise der Regierung führte zu einer enormen Solidarität mit dem Bauhaus im In- und Ausland. Davon unberührt entzog die Regierung Leutheußer dem Bauhaus die für eine solide Arbeit nötige finanzielle Grundlage, indem sie das Budget radikal kürzte.

Dass die vorgetragenen Begründungen einer haushaltspolitischen Abwägung letztlich vorgeschoben und das Vorgehen politisch motiviert war, erklärte Minister Leutheußer im März 1925 letztlich selbst: "Ich betone hier ganz offen und ehrlich: mir paßt die Kunstrichtung des Herrn Gropius nicht. Aber trotzdem hat mich diese Einstellung nicht davon abgebracht, vollständig sachlich hier vorzugehen und meine künstlerischen Bedenken zurückzustellen, wenn ich es auch für meine Pflicht angesehen habe, soweit ich diese Möglichkeit dazu hatte, darauf hinzuwirken, daß ... an Stelle dieser reich extrem expressionistischen Richtung als Norm eine mehr neutrale Richtung eingeführt wurde". Der Grundsatz einer Neutralität des Staates und Nichteinmischung in den Kunst- und Kulturbetrieb galt für die völkisch tolerierte Regierung Leutheußer nicht mehr. Aus den Reihen der regierungstragenden Fraktionen verhielt sich einzig der DDP-Abgeordnete Dr. Krüger kritisch, als er erklärte: "Man kan einem Künstler, den man vom Staate engagiert, nicht solche Grenzen ziehen, wie es geschehen ist von dieser Regierung. Man mag über Herrn Greil denken wie man will, er hat seinen Ärger gelegentlich auch mit Herrn Gropius gehabt, aber er hat nie zum ihm gesagt: diese Richtung paßt mir nicht. Das hat der Herr Staatsminister Leutheußer in seinen Ausführungen über normale und neutrale Kunst getan. Die Verantwortung Herr Staatsminister, werden Sie vor der Kunstgeschichte zu tragen haben."

Und so vertrieb sie das Bauhaus aus Thüringen. Es fand seine neue Heimat in Dessau - die Blütezeit wurde, bis das Bauhaus auch dort weichen musste. Der kommunistische Abgeordnete Tenner formulierte zugespitzt und weitsichtig am 29. Januar 1925: "Wenn das Bauhaus einmal noch berühmter geworden ist wie bisher und es wird einmal ein Musterbau aufgeführt, soll Gropius die rechte Seite des Thüringer Landtags und diese Regierung photographieren und am Fries die Photographie anbringen lassen mit der Unterschrift: 'Die größten Banausen des Jahrhunderts'".

Fünf Jahre später nach der Landtagswahl vom 08. Dezember 1929 erlitten die bürgerlichen Parteien massive Verluste, während die NSDAP stark zulegte. Den 23 bürgerlichen Abgeordneten standen 24 linke Abgeordnete von SPD und KPD gegenüber. Die sechs NSDAP-Abgeordneten wurden zum Zünglein an der Waage.

Am 23. Januar 1930 wurde erstmals in Deutschland eine Landesregierung vereidigt, an der die Nazis direkt beteiligt waren. Wilhelm Frick, am Hitlerputsch 1923 beteiligt, wurde Innen- und Volksbildungsminister. Staatsrat wurde Willy Marschler. Frick führte Schulgebete mit faschistischem Inhalt ein, ließ sogenannte dekadente Gemälde aus Museen und Ausstellungen entfernen, verordnete den Erlass »Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum« und die Zensurmaßnahmen gegen das Buch und den Film »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque. Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Gendarmeriewachtmeister von Hildburghausen wollte er dem Führer der NSDAP die deutsche Staatsbürgerschaft ermöglichen. Dies scheiterte, wurde aber einige Zeit später von der inzwischen dort gebildeten Regierung unter NSDAP-Beteiligung in Braunschweig durchgesetzt. Damit wurde der vormals staatenlose Hitler in Deutschland wählbar.

Bevor Frick 1931 durch ein Misstrauensvotum abgesetzt wurde, gelang ihm die Errichtung eines Lehrstuhls für Sozialanthropologie für den »Rasseforscher« Hans F. K. Günther an der Jenaer Universität. Bereits im Juli 1932 war die NSDAP wieder in der Thüringer Regierung vertreten. Diesmal mit Fritz Sauckel, einem der engen Vertrauten Hitlers, Hauptverantwortlichen für die Zwangsarbeit und im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess für schuldig befunden und hingerichtet.

Begonnen hatte all dies jedoch mit der Entscheidung der Konservativen und Liberalen, das Bündnis mit den Völkischen einer republikanischen Zusammenarbeit vorzuziehen und damit die Republik ihren Feinden auszuliefern.